Internationaler Freimaurerorden für Männer und Frauen Österreich

LE DROIT HUMAIN

DAS MENSCHENRECHT

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Emanzipation

Harald F.

Seit Jahrhunderten sorgt die ungleiche Verteilung von Macht, Menschenrechten, Entfaltungsmöglichkeiten und Besitztümern für Spannungen in den europäisch geprägten Gesellschaften. Ebenso lang begründeten die wenigen, die über Macht, Rechte, Möglichkeiten und Besitz verfügten, die herrschende Ungleichheit mit der "Natur des Geschlechts", mit der "Natur der Rasse". So als wäre die Gesellschaft ein Produkt der Natur und determiniert wie ein Übergang von Land zu Meer. Die Verhältnisse würden sich daher, wenn überhaupt jemals, nur so langsam verändern wie ein Küstenverlauf. Was die Mächtigen hätten, wäre einer natürlichen Ordnung geschuldet und stünde ihnen – Gott sei Dank – zu.

Manche, die zwar weniger Macht, aber genügend zu verlieren hatten, stützten diese Ordnung. Schließlich gab es wenig im Überfluss. Die Mittel wären begrenzt, hieß es, und wenn jemand mehr davon bekäme, würden sie jemand anderem fehlen. Somit standen all jene, die um Emanzipation von Ungleichbehandlung, um gerechte Verteilung von Menschenrechten, Entfaltungsmöglichkeiten und gerechter verteilten Besitz kämpften, stets zwei Mächten gegenüber: den göttlichen Naturgesetzen und der Macht der Arithmetik.

Viel wurde geforscht, um die Natur besser zu verstehen. Während das Verständnis wuchs, wurde Gott als Schöpfer der natürlichen wie der gesellschaftlichen Ordnung schrittweise entthront und ihm letztlich ein angemessener Platz zugewiesen: der einer Metapher. Vielfach war es jedoch so gewesen, dass ausgerechnet jene, die die Macht Gottes am eifrigsten zurückdrängten, selbst den freiwerdenden Platz besetzten. Seit dem 16. Jahrhundert breitete sich die Vorstellung aus, wen Gott liebe, den beschenke er schon zu Lebzeiten nicht nur mit einem festen Glauben, sondern auch mit Geld und irdischer Macht. Damit ausgestattet, konnten sich Kolonialismus, Imperialismus, Liberalismus, Faschismus und Neoliberalismus über den Tod Gottes hinaus als Ersatzreligionen etablieren und der Welt ihren Stempel aufdrücken. Der von Gott befreite Machtmensch brachte nun eine neue Kraft gegen die Emanzipation in Stellung: die Macht der Freiheit, über die angeblich alle verfügten, wenn sie nur klug, begabt und geschickt genug wären.

Wir stellen uns die Freiheit gern als Verbündete der Emanzipation vor, so als würden Freiheit und Emanzipation einander bedingen. Am schönsten glänzt das Dreigestirn "Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit". Doch aus der Freiheit von Fesseln war innerhalb kurzer Zeit die Freiheit, sich alles erlauben zu können, geworden. Die Freiheit ist aus dem Dreigestirn ausgebrochen, sie war vorgeprescht und hat die Gleichheit und Geschwisterlichkeit nicht nur im Stich gelassen, sondern sich sogar über sie gestellt. Die Kolonialisten seit der Neuzeit konnten sich ebenso auf ihre Freiheit berufen wie die Turbokapitalisten des 20. und 21. Jahrhunderts. Das Verständnis von Emanzipation im Sinne von Karl Marx als "Zur Rückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst", auf seine "`forces propres´ als gesellschaftliche Kräfte" war ihnen ein Gräuel. Was ihnen entgegenstand, das Streben vieler nach Gerechtigkeit, nach Emanzipation der Geschlechter, nach Emanzipation zwischen den sogenannten "Rassen" und "Klassen", nach der Anerkennung von "Gender" als normative Kraft, war und ist für sie Sand im Getriebe.

Albert Schweitzers Ansicht, demnach Glück das einzige sei, das sich verdoppelt, wenn man es teilt, ist vielen geläufig. Doch auch das Recht wird mehr, wenn man es teilt. Gerechtigkeit, Freude lassen sich mehren, ohne auf Kosten von etwas anderem zu gehen. Es stimmt zwar, dass, wenn mehr Frauen oder Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen in die verfügbaren Spitzenfunktionen gelangen, weniger für die bislang herrschenden weißen Männer übrig bleiben. Doch ist dieses Argument nur in einem System steiler Hierarchie wirklich schlagkräftig, in einem System flacher Hierarchien, in egalitären Systemen, die mehr auf Austausch als auf Herrschaft beruhen, verliert die Arithmetik der Posten an Bedeutung. In einem egalitären System kommt es viel mehr auf die »forces propres«, auf die eigenen Stärken, auf Glaubwürdigkeit, Können, auf verantwortungsvollen Umgang miteinander, auf kommunikative Kompetenz und Würde an, als auf die formale Funktion. In diesem Sinne ist Gleichheit eine Voraussetzung für Gerechtigkeit, und Emanzipation ist die Summe aller Bemühungen und Prozesse, die Freiheit der Einzelnen innerhalb sozialer Zusammenhänge zu gewährleisten.

Das ist nicht leicht in die Köpfe und Herzen zu bringen. Bedenken wir, wie lange es dauerte, um die grundlegendsten Menschenrechte in Teilen der Welt einigermaßen durchzusetzen.

Was muss Marie de Gournay für ein Mädchen gewesen sein, dass sie sich dem Verbot widersetzte, sich zu bilden, sich Latein beibrachte und antike Klassiker übersetzte. Zur Zeit der Hexenverfolgungen forderte diese Tochter eines armen Landadeligen schon 1622 gleiche Rechte für Frauen und Männer. Sie kritisierte, Frauen in ihren Schriften als das Geschlecht, dem man alle Güter versagte, dem und das Dienen zuschrieb. Fast 170 Jahre später reagierte Olympe de Gouges auf die "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" der französischen Revolution, die nur für mündige Bürger, aber nicht für Frauen galten, mit einer "Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin" (1791). Mary Wollstonecraft, die Mutter der Frankenstein-Autorin Wollstonecraft-Shelley, schrieb ein Jahr danach ihre "Verteidigung der Rechte der Frau". Was wir "Die Aufklärung" nennen und worauf Freimaurerinnen und Freimaurer sich gern beziehen, beließ die Frauen selbstgefällig auf den ihnen zugewiesenen Plätzen. Ab 1866 traf sich die feministische "Société pour la Revendication du Droit des Femmes", der auch Maria Deraismes angehörte. Sie organisierte gemeinsam mit León Richter, der 1868 die Zeitschrift "Le Droit des Femmes" gegründet hatte, den ersten internationalen Kongress zu Frauenrechten 1878 in Paris. Zwar lud sie der "Grand Orient de France" zu einem Vortrag über die Gleichberechtigung der Frau ein, dennoch blieb Frauen die Aufnahme in die Loge bis zum Jahr 2010 verwehrt. Maria Deraimes bekam dennoch Unterstützung von einem Bruder. Georges Martin gründete mit ihr gemeinsam 1893 »Le droit humain«, die erste Loge, der es nicht mehr nur um Brüderlichkeit, sondern um Geschwisterlichkeit ging. Es war das Jahr, in dem übrigens in Neuseeland Frauen zum ersten Mal sich auch an einer Wahl beteiligen durften. In den meisten anderen Ländern der Welt sollte es dafür noch lange dauern. Clara Zetkin konnte erst 1910 auf dem männerdominierten "Zweiten Kongress der Sozialistischen Internationale in Kopenhagen Applaus für ihre feministische Forderung "keine Sonderrechte, aber Menschenrechte" ernten. In Großbritannien wurden zur selben Zeit die Suffragetten (Wahlrechtlerinnen) verhaftet und misshandelt. Wahlrechte für Frauen gab es erst am Ende des 19. Jahrhunderts. Nicht überall erhielten Frauen zugleich das aktive und das passive Wahlrecht. Österreich, Deutschland, Aserbaidschan und viele andere Staaten führten es 1918 ein, Schweden und die Ukraine 1919, die USA 1920, die Türkei 1934, Frankreich und Israel 1944, für das nationale Parlament der Schweiz 1971, Liechtenstein erst 1984.

Das wäre nicht eingetreten, hätten sich nicht lange zuvor schon Einzelne für Veränderungen eingesetzt. Visionärinnen und Visionäre erkennen Möglichkeiten, ehe andere sie sehen. Sie spüren Schwingungen, bevor sie erschüttern. Manche haben den Mut, an das zu glauben, was sie fühlen. Wo die Wirklichkeit im Argen liegt, kann der Kampf für bessere Verhältnisse viel Freude ins Leben bringen, auch wenn sich am Großen und Ganzen lange nichts Positives tut, auch wenn es Hindernisse wie eine Epidemie oder nachhaltige Zerstörungen durch Kriege gibt. Entwickeln Visionärinnen und Visionäre eine gelebte Utopie, gelingt es ihnen, ihre alternativen Ideen zur Praxis zu machen, kann ein Sog hin zum Besseren entstehen. Im Engagement kann man Menschen begegnen, mit denen man nicht nur den Wein, sondern auch die Ansichten und Werte teilt. Wenn man es dann noch schafft, sich vor den Widersprüchen und der Komplexität Wirklichkeit nicht zu verschließen, sondern sich zu öffnen und kreativ damit umzugehen, dann hat man die Chance, wirklich etwas zu verändern. Warum das alles so mühsam ist? Weil »Liberté« immer schon denjenigen am meisten nutzte, die die vorteilhafteren Startbedingungen hatten und sich als Propheten der Freiheit gebärden konnten, weil sie darüber verfügten. Die "Liberté" bestand und besteht für die anderen hingehen oft nur darin, zu protestieren und Verbesserungen zu fordern, die ihnen aber mit Verweis auf die begrenzte Verfügbarkeit von Zeit, Geld und Ressourcen vorenthalten wurden und werden.

Das Streben nach Freiheit in ein ausbalanciertes Verhältnis gegenüber Gleichheit auf dem Weg zu einer freien Gesellschaft, in der um Emanzipation nicht mehr gerungen werden muss.